Die wahren „Berlin Legends“ – der Streckenrand beim Berlin Marathon 2023

„Wenn die Großmutti mit dem Kochtopf und einem Holzlöffel am Rand steht und anfeuert, dann weißt du, du bist in Berlin!“

Das waren die Worte eines anderen Läufers in der S7 als wir morgens um kurz nach 8 Uhr mit auf dem Weg zum Berliner Hauptbahnhof waren, voller Aufregung wegen des anstehenden Spektakels. Was genau er damit meinte und was das Erlebnis Berlin Marathon so besonders macht, sollte ich um 9:15 Uhr über die legendären 42,195 Kilometer durch die Straßen der Hauptstadt herausfinden.

Über das Erlebnis Berlin Marathon hatte ich zuvor schon einiges gehört: „Die Strecke ist furchtbar schnell!“, „Da läufst du bestimmt eine Bestzeit!“, „Es gibt in Berlin so wenige Kurven!“ Besonders fasziniert haben mich aber vor allem die ganzen Geschichten über die Stimmung entlang der Strecke. Wer sind die Menschen am Streckenrand, die den Berlin Marathon so einzigartig machen?

Ausschließlich gut waren die Sachen, die ich gehört habe allerdings nicht: Ein paar Tage vor der Fahrt nach Berlin zum Beispiel hieß es in einem Podcast, dass sich Berlin nur im Hass auf den Marathon vereint fühle. „Wow.“, dachte ich mir. „Wie sollen denn so alle anderen Stories die ich von Bekannten in der Szene gehört habe, stimmen?“

Der Marathon nimmt diese Stadt ein!

Und das hat gute und schlechte Seiten! Ich kann jeden Berliner verstehen, der an den Tagen der Startnummernvergabe genervt von den überfüllten U- und S-Bahnen auf dem Weg zum Tempelhof  ist. Aus läuferischer Sicht allerdings versteht man hier zum ersten Mal die tatsächliche Dimension des Events: 48 000 Läuferinnen und Läufer,  sowie Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen sind hier unterwegs, um am kommenden Sonntag durch die Hauptstadt zu heizen.

Meine Rechnung war nicht sehr komplex: Wenn auch nur jeder Teilnehmer mindestens eine einzige Person in der Stadt kennt und dazu bringt, an der Strecke zuzuschauen, dann sollten ja pro Kilometer mehr als 1 000 Zuschauer stehen und Stimmung machen. In meinem Trailrunner-Kopf war das ja fast zu schön um wahr zu sein. In der Regel starte ich ein Rennen vor 50 Zuschauern, laufe 3 Stunden alleine durch den Wald, ohne eine Menschenseele zu treffen, und komme dann zu den gleichen 50 Zuschauern zurück ins Ziel.

Die große Menschenmasse auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum Start

Tausende Menschen schoben sich am Sonntagmorgen vom Hauptbahnhof zum Start.

Das Erlebnis Berlin Marathon übertrifft alles, was ich kannte!

Lediglich 1 000 Zuschauer pro Kilometer zu erwarten stellte sich als naiv heraus, aber zurück zum Beginn des Marathontages, zum Startblock genau gesagt. Bereits hier, bevor das Rennen überhaupt losging, kämpfte ich schon zum ersten Mal mit den Tränen.

Zwischen Tausenden Läuferinnen und Läufern, die voller Vorfreude zur Tanzmusik im Startblock aufgeregt von einem Fuß auf den anderen wippten, starrte ich auf den riesigen Bildschirm über uns: Die Favoriten des Rennens wurden vorgestellt. Nachdem die Begrüßung des deutschen Amanal Petros, der an diesem Tag seinen Deutschen Rekord bestätigen und auf unglaubliche 2:04:58h verbessern sollte, mir Gänsehaut bereitet hatte, gab mir der Empfang des nächsten Profis den Rest. Groß oben auf dem Bildschirm, irgendwo da vorne, 200m von mir stehend, war die Marathon Legende Eliud Kipchoge zu sehen. Es zogen Jubel und Begeisterung durch die Menschenmasse und brachten mir fast Tränen in die Augen. Von einer Sekunde auf die andere war hier eine Motivation  zu spüren, die man beinahe anfassen konnte.

 

Amanal Petros in voller Erleichterung hinter der Zielline in der Unter den Linden Straße.

Voller Stolz und Erleichterung beendet der deutsche Amanal Petros mit einem neuen Deutschen Rekord das Rennen.

Die Äthiopierin Tigst Assefa voller Erschöpfung auf dem Boden, unmittelbar nachdem sie den neuen Weltrekord über die Marathondistanz aufstelle.

Abgebrüht bis zur Ziellinie pulverisiert die Äthiopierin Tigst Assefa den Weltrekord in 2:11:53h.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Endlich ging es los!

Der Startschuss fiel und langsam ging es in Richtung der Zeitmatte, ab der die Uhr ticken sollte. Unmittelbar dahinter war die Stimmung der Zuschauer bereits grandios. Auf  beiden Seiten der breiten Hauptstraße standen sie jubelnd in mehreren Reihen. Verschiedenste Nationalflaggen wehten und feuerten ihre Landsmänner und -frauen an. Einige Kilometer lief ich hinter einem Läufer, der wohl aus Mexiko stammt – zumindest erhielt dieser alle 200m von seinen flaggenwehenden Fans unüberhörbaren Applaus, der auch mich, 3 Meter hinter dem Mexikaner, total abgeholt und motiviert hat.

Musikalisch zeigte sich der Streckenrad von Berlins bekannter Vielfalt. Der erste Live-DJ, an dem ich auf Höhe der Schweizer Botschaft vorbeigelaufen bin, hat zu diesem Zeitpunkt gerade erst sein Set begonnen, weswegen es hier noch recht ruhig ablief. Von DJ Nummer 2, 3 und 4, die später im Marathon dann die Stadt beschallten, konnte man das nicht mehr behaupten. Hier versammelten sich Hunderte Leute zu einer Art „Marathon-Rave“ und feierten ausgelassen und mit ansteckender Authentizität den Marathon, die Musik und sich selbst.

 

Eine Vielzahl an Trommelgruppen mit zwischen einer und 40 Personen verteilte sich ebenfalls entlang der Strecke und gaben den Rhythmus für ein Rennen vor, dessen Schmerz und Anstrengung man fast schon kurzzeitig vergessen konnte, wenn man sich auf die Spektakel am Streckenrand konzentrierte.

 

Die Personen entlang der Marathonstrecke sind genau so heterogen wie diese Stadt selbst. Ich meine jede, wirklich jede Art von Mensch in der Menge entlang der Strecke finden zu können. Menschen, denen man oberflächlich nie nachgesagt hätte, sie würden sich an einem Sonntagmorgen auf den Bürgersteig stellen und anderen Menschen beim Laufen zuschauen. Doch hier stehen sie plötzlich neben der Strecke und rufen mit so einem überzeugenden Enthusiasmus deinen Namen, dass es dich sofort wieder auf die Spur bringt und den Gedanken, einfach langsamer zu laufen, vergessen lässt.

 

Alle kommen zusammen!

Wirklich alle. Und das hilft ungemein. Ich habe mich ständig erwischt, wie ich quer durch das Läuferfeld von einer Straßenseite zur anderen gehuscht bin, um die nächste Gruppe Kinder abzuklatschen oder das zwanzigste „Touch Me For Power-UP“ Schild zu berühren.

Dass ich am Ende laut meiner Uhr ca. 1 000 Meter mehr gelaufen bin, ist da irgendwie total zweitrangig. Der Berlin Marathon war an diesem Tag so viel mehr für mich als die 42,195 Kilometer lange, blaue Idealline auf dem Asphalt. Ich wollte alles mitnehmen. Die Stimmung am Straßenrand erleben, auch wenn die lange Außenseite des Kreisverkehrs Bonusmeter bedeutet. Ich wollte die Gruppe von alten Damen sehen, die Muffins an die Läufer verteilen und mit Töpfen und Kochlöffeln trommeln. Oder das Pärchen, das mitten in Kreuzberg „What’s Up“ von den 4 Non Blondes als Duett gesungen hat. Das sind die Dinge, die das Erlebnis Berlin Marathon von den unzähligen Rennen, die ich schon gelaufen bin, hervorheben und so einzigartig machen.

 

 

 

 

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